„Zu mir kommen viel mehr Frauen als Männer. Leider.“

Es sind vorwiegend muslimische Ehepaare, die zu Ibrahim Rüschoff in die Praxis kommen. Der Psychotherapeut hat viele Ehekrisen und manche Scheidung miterlebt. Im Interview mit QAMAR spricht er über die häufigsten Faktoren für Eheprobleme, überholte Rollenmuster und die Krise der Männlichkeit.

Interview: Nermin Ismail Fotos: Jana Kay

Die Scheidungsrate liegt in Österreich bei etwa 40 und in Deutschland bei etwa 35 Prozent. Bei muslimischen Paaren liegen die Quoten zwar noch unter dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung, steigen jedoch. Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür?

Wir Psychotherapeut:innen sehen natürlich vor allem die Problemehen, das ist eingangs wichtig festzuhalten. Ein Grund für Ehekrisen bei jungen muslimischen Paaren ist sicherlich, dass der Islam oft als Grundlage der Ehe idealisiert wird. Das heißt, es entsteht die Vorstellung, dass eine gläubige Muslimin oder ein gläubiger Muslim wohl auch eine gute Partnerin beziehungsweise ein guter Partner sein würde. Nun sind Muslim:innen in ihren kulturellen Prägungen und persönlichen Biografien aber sehr divers, pflegen unterschiedlichste Lebensstile, die Alltag und Partnerschaft stark bestimmen, zum Beispiel was Ordnung, Temperament, Konfliktfähigkeit betrifft. Eine „gute Muslimin“ oder ein „guter Muslim“ muss also nicht automatisch auch eine passende Ehepartnerin oder ein Ehepartner sein. Der Alltag einer Ehe wird viel stärker von persönlichen Eigenarten der beiden Menschen geprägt als von ihrer Religiosität. Diese Eigenarten können liebenswert sein, aber auch auf die Nerven gehen.

Die in der Mehrheitsgesellschaft gängige „Erprobung“, vor der Ehe zusammenzuziehen, kommt für die meisten Muslim:innen nicht infrage. Daher brauchen Heiratswillige ausreichend Zeit und Gelegenheit, sich kennenzulernen. Jemanden nach drei Monaten und vielleicht fünf oder sechs Treffen – womöglich noch beim Kaffee in Gegenwart der Eltern – zu heiraten ist eine hochriskante Sache. Das Paar braucht genügend Zeit für sich allein, was auch islamisch unproblematisch zu organisieren wäre. Das wird jedoch von traditionellen Elternhäusern oft massiv erschwert.

Ein weiterer Grund für frühe Ehekrisen sind überkommene Rollenmuster – zumeist bei Männern –, die vor der Ehe nicht ausreichend geprüft werden. Die Eltern der Brautleute stammen häufig aus Kulturen, in denen eine starke Orientierung an Geschlechterrollen vorherrscht. In Deutschland dagegen besteht ein großes Maß an persönlicher Freiheit, sodass Partnerin und Partner viel mehr verhandeln und absprechen müssen. Hilfreich wäre ein Angebot qualifizierter Ehevorbereitungskurse, die juristische und vor allem psychologische Aspekte einer muslimischen Ehe aufgreifen. Eheverträge wären übrigens auch ein wichtiges Instrument zur Konfliktvermeidung. Sie werden aber oft als Misstrauensvotum missverstanden. Dabei sehen wir in der Praxis immer wieder, dass mündliche Zusagen oft genug nicht eingehalten oder relativiert werden.

Ehevorbereitungskurs, Ehevertrag – das klingt nicht gerade romantisch. Kann
es sein, dass junge Menschen sich ihre Vorstellungen von Liebe und Romantik lieber nicht zerstören lassen wollen und die Ehe später genau deshalb scheitert?

Das ist sicherlich ein problematisches Kriterium bei der Partnerwahl: diese Idealisierung der Liebe, die „schon alles richten wird“. Grundsätzlich kann Liebe das auch, aber sie kommt immer auf der Basis unserer Persönlichkeiten daher. Der persische Dichter Nezami gibt in Leila und Madschnun ein berühmtes literarisches Beispiel dafür, wie es ausgehen kann: Die männliche Hauptfigur wird verrückt vor Liebe zu Leila, mit der er nicht zusammen sein kann, weil ihre Eltern sie mit einem anderen Mann verheiratet haben. Wenn Liebe mit Verliebtheit verwechselt und diese als Dauerzustand angestrebt wird, dann ist die Enttäuschung praktisch vorprogrammiert.

Sie haben männliche Rollenmuster erwähnt. Geht es hier um ein spezifisch „muslimisches“ Männerbild?

Zunächst muss ich festhalten, dass zu mir viel mehr Frauen als Männer kommen. Leider. In den Berichten finden sich typische Konfliktmuster. Ja, es gibt diese traditionellen Vorstellungen – das Y-Chromosom als Qualitätsmerkmal, sozusagen. Diese Rollenmuster findet man aber im gesamten Mittelmeerraum in vergleichbaren sozialen Schichten, völlig unabhängig von der Religion. Katholische Italiener und Spanier, orthodoxe Griechen, koptische Ägypter, maronitische Libanesen und muslimische Marokkaner unterscheiden sich da nicht sehr. Es sind eher die sozialen Verhältnisse, die die Identität der Betroffenen prägen und daher schwer zu verändern sind. Erschwerend kommt hinzu, dass viele muslimische Männer diese Normen religiös stützen, was sie praktisch unantastbar macht.


Ibrahim Rüschoff hat Pädagogik und Medizin studiert. Als Psychiater und Psychotherapeut war er lange Zeit als Oberarzt an einer Klinik tätig, heute betreibt er gemeinsam mit seiner Frau, der Psychologischen Psychotherapeutin Malika Laabdallaoui, eine psychotherapeutische Praxis in Rüsselsheim am Main.

Stecken die Männer in einer Krise?

Die traditionelle Männlichkeit, die für sich den Schutz und die Versorgung der Familie in Anspruch nimmt, ist in modernen Gesellschaften eine schwierige Angelegenheit. Sie ist im heutigen Sozialstaat kaum noch gefragt, Frauen können gut allein zurechtkommen und sich selbst helfen. Daher ist nicht mehr selbstverständlich klar, was einen modernen – zumal muslimischen – Mann ausmacht. Die Antwort ist schwierig, und dies umso mehr, wenn wir die Religion als Begründungszusammenhang heranziehen. So lernen Männer in traditionellen Familien, dass sie als Ehemänner die letzte Entscheidungsbefugnis haben, sie sollen führungsstark sein, die Familie versorgen, sie beschützen und nach außen vertreten. Frauen kümmern sich aus dieser Perspektive um den Haushalt und die Erziehung der Kinder. Das wird gerne als „islamisch“ bezeichnet. Aber ist es auch die einzige islamische Lösung? Geht es auch alternativ oder gar andersherum? Ungewöhnlich ist nicht gleich unislamisch, könnte man sagen. Warum orientieren wir uns so stark an Rollenmustern statt an den Fähigkeiten der Partnerin und des Partners und den zu erledigenden Aufgaben?

Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich denke schon, dass die Männer in einer Krise stecken. Daher müssen wir darüber diskutieren, wie wir zu einem stabilen Selbstbild und einem gedeihlichen Zusammenleben in den Familien kommen.

Ein großes Thema bei Muslim:innen ist der Gehorsamsanspruch der Eltern, der oft religiös legitimiert wird.

Ein Problem ist immer wieder, dass der Gehorsamsanspruch der Eltern als ein absoluter verstanden wird. Er wird in Predigten beschworen, wo es immer gleich um Himmel und Hölle geht und wo immer von der Schuld die Rede ist, in der die Kinder gegenüber den Eltern angeblich stehen. Das Verhältnis zu den Eltern ist eines gegenseitiger Liebe, Verantwortung, Achtung und so weiter, aber doch kein Schuldverhältnis! Dieses Schuldgefühl ist manchmal aber so verinnerlicht, dass ein Patient einmal wie nebenbei äußerte, dass er eine Sünde begangen habe, weil seine Mutter sich über ihn geärgert hatte. Manche Mütter sind ständig unzufrieden, wie soll das gehen? Und es gibt Eltern, die ihre Kinder schlecht behandeln, erpressen, missbrauchen. Wo sind da die Grenzen des Gehorsamsanspruchs? Hier sehe ich auch die Imame in der Pflicht: Sie predigen fast ausschließlich über die Ansprüche der Eltern, aber selten bis nie über die der Kinder.

Aber das ist hoffentlich nicht der Normalfall. Wir können doch davon ausgehen, dass die meisten Eltern nur das Beste für ihre Kinder wollen.

Sicherlich ist das so. Wie ich eingangs sagte: Wir sehen in der Praxis die Problemfälle. Aber man kann leider auch aus Liebe irren. Damit bin ich bei einem weiteren Problem in vielen muslimischen Familien: die oft überstarke Bindung vieler junger Männer an eine sie verwöhnende Mutter, aus der sie als Erwachsene nicht herausfinden. Das hat viele Gründe, insbesondere in patriarchalen Kulturen, wo Söhne Frauen Sicherheit vermitteln und auch gesellschaftlichen Einfluss ermöglichen. Aber wie überall auf der Welt müssen auch diese jungen Männer mit den steuernden Seiten einer Mutter umgehen lernen, was problematisch ist, wenn sie keinen offenen, respektvollen Widerspruch leisten dürfen. Man muss es so sagen: Viele Männer haben Angst vor starken Frauen, die ihnen oft gar nicht bewusst ist, weil sie nie lernen konnten, sich angemessen durchzusetzen, vor allem in eigenen Belangen, die niemand anderen betreffen. In der Ehe führt das oft zu einem Kontrollbedürfnis der selbstbewussten jungen Ehefrau gegenüber. Bei Meinungsverschiedenheiten zwischen der Partnerin und den eigenen Eltern stehen Männer zwar oft im Gespräch auf der Seite der Frau, getrauen sich dann aber nicht, diese Position gegenüber den Eltern zu vertreten oder die Ehefrau vor ihnen in Schutz zu nehmen. Deswegen ist es wichtig, dass Schwiegertöchter ihre Probleme mit den Schwiegereltern möglichst selbst lösen.

Hier liegt letztlich auch der Ausweg aus der Misere: Wenn starke Frauen ihre Angelegenheiten in der Gesellschaft selbst regeln, brauchen sie keinen Einfluss mehr auf abhängige Söhne – und diese wiederum brauchen keine Angst mehr vor starken Frauen zu haben. Ich stelle diese Zusammenhänge hier natürlich nur in groben Umrissen dar, die Dinge sind oft viel komplexer.

Auch Ehen, die nicht in einer Scheidung münden, bergen belastende Probleme, wie mangelnde Kommunikation oder finanzielle Sorgen. Welche Probleme orten Sie am häufigsten?

Geld ist sicherlich ein wichtiger Punkt, da es Macht bedeutet. Oft weiß die Frau nicht, was der Mann verdient oder mit dem Geld macht. Viele berufstätige Paare teilen sich die Kosten irgendwie auf: er bezahlt die Miete, sie die Lebensmittel, er das Benzin, sie die Kleidung der Kinder und so weiter. Den Rest verwendet jede:r für sich. Beim Urlaub oder beim neuen Wagen, bei Möbeln oder beim Hauskauf wird es dann schwierig. Damit es wirklich gerecht zuginge, müsste man so etwas wie eine jährliche Kostenabrechnung erstellen, was natürlich niemand macht. Solche Dinge führen dann schnell zu einem Gefühl von Benachteiligung und zu Streit.

Mangelnde Kommunikation und Absprachen sind ein weiteres häufiges Konfliktfeld. Absprachen bedeuten natürlich auch Festlegung und Verbindlichkeit, die viele Partner scheuen, nach meinem Eindruck insbesondere die Ehemänner. Sie kommen nach Hause, wann sie wollen, lassen sich auf nichts festlegen, helfen nicht im Haushalt, möchten aber bestimmen und das Geld allein verwalten. Viele scheinen nach der Heirat ihr Leben, das sie vor der Ehe als anspruchsvoller Sohn geführt haben, einfach weiterzuführen, nur eben mit Sex.

Haben Sie schon Ehen „retten“ können? Und haben Sie einem Paar jemals zur Scheidung geraten?

Therapeut:innen sollten keine Ratschläge geben und haben auch nicht die Aufgabe, Ehen zu retten. Wir können aber Ratsuchenden bei der Entscheidungsfindung helfen. In vielen Ehen spüren beide Partner:innen, dass sich etwas ändern muss. Sie kommen zu uns und wir schauen, welchen „Auftrag“ sie für uns haben. Oft sind es Kommunikationsprobleme, unausgesprochene Vorannahmen oder typische Streitmuster („Übernimm Dinge im Haushalt, aber mache sie bitte so wie ich!“). Hier lassen sich zumeist Lösungen finden. Wenn eine Partnerin oder ein Partner aber die Trennung will und auch in der Beratung dabei bleibt, dann beschränkt sich meine Arbeit darauf, eine möglichst friedliche Trennung zu begleiten – insbesondere dann, wenn Kinder mitbetroffen sind.

Welche Belastungen folgen auf eine Scheidung? Spüren Sie bei Ihren Klient:innen, dass sie am alten Stigma leiden, „Geschiedene“ zu sein?

Oft wird die Frau vom Ex-Mann und auch von dessen Familie für das Scheitern der Ehe verantwortlich gemacht. Nach dem Prinzip „Wenn er fremdgegangen ist, warst du wahrscheinlich keine gute Ehefrau!“ Viele geschiedene Frauen machen sich Sorgen, den Rest ihres Lebens allein zu bleiben, oder sprechen in den Therapien über ihre Ängste, in einer neuen Ehe wieder in denselben Schlamassel zu geraten. Und, was besonders schlimm ist, sie sorgen sich um mögliche sexuelle Übergriffe eines neuen Mannes auf ihre Töchter.

Was zeichnet eine dauerhafte und gesunde Partnerschaft aus? Haben Sie so etwas wie die „drei wichtigsten Tipps“ für junge Eheleute?

Man sollte versuchen, dem Partner beziehungsweise der Partnerin wirklich auf Augenhöhe zu begegnen, und den anderen in seiner Andersheit auch akzeptieren. Frauen sollten versuchen, direkter zu äußern, was sie denken und sich wünschen. Sie meinen oft, dass ihre Männer doch sehen müssten, wie es ihnen geht. Das ist aber leider nicht so. Und wenn sie doch etwas sehen, ist ihre „Fehlerquote“ hoch! Männer sollten mehr zuhören, nicht so viel „lösungsorientiert“ denken – denn das können Frauen selbst – und offener und vertrauensvoller über ihre eigenen Bedürfnisse und Ängste sprechen.

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