„Wie wir über andere denken, ist eine Entscheidung, die wir täglich aufs Neue fällen“

Wir müssen lieben lernen, was uns besonders macht – und erkennen, was wir alles nicht wissen über unsere Mitmenschen. Das schreibt Hadija Haruna-Oelker in ihrem Buch Die Schönheit der Differenz. Ein Gespräch über die Suche nach Identität, über alte weiße Omas und über Mit-Gefühl mit Bindestrich.

Interview: Clemens Stachel Fotos: Wolfgang Stahr

Frau Haruna-Oelker, in Ihrem Buch Die Schönheit der Differenz gehen Sie der Diskriminierung von marginalisierten Menschen sowie deren vielstimmigen Kämpfen für Gleichberechtigung auf den Grund. Sie öffnen aber auch die Perspektive darauf, dass ein breiteres Verständnis für Unterschiede in der Gesellschaft möglich ist. Das Buch ist anspruchsvoll, aber trotzdem wunderbar flüssig zu lesen. Hatten Sie denn beim Schreiben ein bestimmtes Publikum im Kopf?

Ich habe mir schon Menschen vorgestellt, für die ich das Buch schreibe, ja. Es war ein ähnliches Publikum, wie ich es mir auch bei der täglichen journalistischen Arbeit vorstelle: sehr heterogen, sehr breit – weil ich eben von einem diversitätsbewussten Denken geprägt bin. Gleichzeitig sehe ich aus dieser intersektionalen Perspektive, dass es von Mensch zu Mensch einfach unterschiedliche Erfahrungen von Differenz und von Diskriminierung gibt, dass diese Unterschiede immer gleichzeitig da sind, sowohl parallel in der Gesellschaft als auch ineinander verwoben. Die Sache ist nicht statisch. Und so haben sich beim Schreiben auch „Bücher in Büchern“ entwickelt. Es kann deshalb sein, dass sich manche Leser:innen von einem Kapitel mehr angesprochen fühlen als von einem anderen, sich aber trotzdem immer wieder etwas ganz Neues mitnehmen können, was sie bislang noch nicht wussten.

Was die Zielgruppe eint, die ich ansprechen will, ist, dass es wohl Menschen sind, die sich interessiert und offen mit Fragen der Emanzipation in der Gesellschaft auseinandersetzen möchten. Und so viel weiß ich jetzt nach ein paar öffentlichen Lesungen: Das ist ein ziemlich breiter Querschnitt durch die Bevölkerung. Was sicherlich damit zu tun hat, dass ich nicht nur über ein Problem, sondern über verschiedene Themenfelder der Unterdrückung schreibe.

Es ist auffällig und bemerkenswert, dass Sie der Geschichte der verschiedenen Struggles marginalisierter Menschen viel Raum widmen, etwa der politischen Selbstorganisation Schwarzer Menschen in Deutschland, vor allem in den 1980er Jahren. Warum ist Ihnen diese geschichtliche Einbettung Ihrer eigenen Gedanken so wichtig?

Für mich ist der intergenerationale Blick ganz zentral. Unsere Gesellschaft besteht nicht aus einem Kampf der „Jungen“ gegen die „Alten“, sondern es gibt starke Verbindungslinien zwischen den Generationen, auch was die Emanzipation angeht. Ich hätte meine Geschichte nicht erzählen können ohne diese Elders, die den Weg frei gemacht haben. Die die ersten Schritte gegangen sind. Die verantwortlich dafür sind, dass auch ich in so etwas wie ein Selbstverständnis hineinfinden konnte – damals mit 16, 17 Jahren. Ich beschreibe etwa, wie ich damals auf das Buch Farbe bekennen gestoßen wurde, das Standardwerk der Schwarzen Bewegung in Deutschland, 1986 geschrieben. Ich war auf der Suche, während ich noch gar nicht so richtig wusste, dass ich auf der Suche war. Und konnte dann erst für mich eine Art Selbstbeschreibung finden, ein Gefühl von „Das bin ich wirklich“. Die Geschichte der Schwarzen Bewegung in Deutschland wird im Allgemeinen viel zu wenig wahrgenommen, dabei ist sie ganz maßgeblich, um unsere Gesellschaft zu verstehen. Auch um Teilhabe und Zugehörigkeit anders zu deuten, als es weithin üblich ist. Denn die Schwarze deutsche Geschichte geht viel länger zurück, als es die Debatte um „Integration“ gibt. Schon zur Zeit des Kaiserreichs kamen Schwarze Menschen nach Deutschland. Allein darüber Bescheid zu wissen, kann unsere Geschichtsvorstellungen verändern. Viele marginalisierte Gruppen haben gemeinsam, dass sie in der Geschichtsschreibung ausgeblendet werden. Und so beginne ich das Buch mit einigen Szenen aus meinem Leben, denn auch da bildet sich zum Teil Schwarze Geschichte ab. Zum Teil!

In Ihrem Buch geht es ganz stark darum, dass es wichtig ist, die Unterschiede unserer Identitäten anzuerkennen, aber sie gleichzeitig als Ausgangspunkte eines ständigen Perspektivenwechsels anzunehmen, um so einen offenen Umgang miteinander und sogar ein Mit-Fühlen zu ermöglichen.

Ich selbst bin mit einer vorrangig weißen Sozialisierung aufgewachsen und musste mir mein Schwarzes Bewusstsein erst später dazuholen, um für mich „ganz“ zu werden. Meine Mutter ist weiß, mein Vater ist Schwarz, und ich bin mit beiden aufgewachsen. Ich weiß um die Privilegien meiner Mutter, die da sind, ganz egal ob sie eine Schwarze Tochter hat oder nicht. Gleichzeitig ist sie aber Teil der Rassismus-Erfahrung, die uns gemeinsam umgibt, weil wir miteinander verbunden sind. Und ich beende das Buch ja mit Szenen aus meinem heutigen Leben als Mutter eines Kindes mit Behinderung. Wie ich als nichtbehinderte Frau eine Verbindung mit Lebensrealitäten habe, die ich selbst nicht unmittelbar erlebe oder aus eigener Erfahrung beschreiben kann. Diese Art der Verbindung, die also eine Verantwortlichkeit für andere Menschen und Gruppen mit sich bringt, steht im Zentrum meines Denkens. Und dabei ist es ganz wichtig, dass diese Verbindungen auch außerhalb von klassisch familiären Kreisen aufgebaut werden. Weil man einfach ein bestimmtes empathisches Mit-Gefühl – ich schreibe das immer mit Bindestrich – entwickelt. Weil man sagt: Ich möchte für alle alles. Und dafür braucht es gewisse Mechanismen der Nähe. Jetzt bin ich vielleicht abgeschweift.

Eigentlich gar nicht. Sie schreiben, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen einander „ohne Schuld und Scham“ begegnen können sollen. Wie funktioniert das? Man denkt dann unweigerlich etwa an die sprichwörtliche „alte weiße Oma“, die womöglich unbedacht rassistische Begriffe verwendet.

Im Grunde genommen gibt es keine Gruppen. Gruppen sind immer konstruiert, gebaut, historisch verankert. Und weil diese Geschichte eine sehr alte ist, haben eben auch Menschen, die heute alt sind, schon länger darin und damit stattgefunden. Andersrum gesagt: Sie sind deshalb in manchen Punkten sogar „näher dran“ am Problem und haben mehr davon mitbekommen als ich. Genau das meine ich mit dem Perspektivenwechsel, den ich mir wünsche: Ich erkenne mich selbst, aber auch das, was ich nicht weiß über die Leben der anderen, die ich nicht bin. Daher die Rückfrage: Was schreiben Sie dieser „alten weißen Oma“, die übrigens meine Oma hätte sein können, überhaupt zu? Offenheit und Lernbereitschaft sind doch die Grundlage allen Denkens in jedem Alter. Eines Denkens, das Irritationen zulässt und ein Umdenken ermöglicht, ein Ver-Lernen. Ich kann mir nur wenige Menschen vorstellen, die nicht in der Lage sind, ihr Denken zu verändern. Wie wir über andere denken, ist eine Entscheidung, die wir täglich aufs Neue fällen. Will ich jeden Tag weitermachen wie bisher oder möchte ich neues Wissen aufnehmen, es reflektieren und vielleicht an andere Menschen weitergeben? In dem Moment, wenn ich in den Prozess des Denkens und des Aushandelns mit anderen gehe, findet Gespräch statt. Und von diesen Räumen des Austauschs haben wir leider noch viel zu wenig.

Das Gespräch, das Aushandeln mit anderen im medialen oder öffentlichen Raum kann auch sehr fordernd sein, weil der Diskurs gerne um einzelne Wörter, Kategorien und Definitionen kreist.

Ich schreibe grundsätzlich gegen Kategorisierungen an, sage aber gleichzeitig, wir müssen sie ja trotzdem verstehen und mit ihnen umgehen, weil sie nun mal da sind. Das beste Beispiel für so einen Prozess ist der englische Begriff Race: Der Begriff beschreibt keine „Rassen“ im deutschen Sinn des Wortes, sondern er steht dafür, dass es keine Menschenrassen gibt, wir aber trotzdem in dieser Kategorie denken. Wir haben im Deutschen dafür keine Entsprechung und deswegen ist Race nützlich. Es gibt natürlich nicht „die Schwarzen Menschen“ oder „die behinderten Menschen“ und so weiter, sie sind alle in sich heterogen, ihre Identitätsmerkmale überschneiden sich. Ein anderes Beispiel wäre die aktuelle Debatte über den Begriff „woke“. Das ist an sich ein sehr alter Begriff, der aus den 1940er Jahren stammt, dann in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre verwendet wurde, bevor er dann in den 2010er Jahren ein neues Momentum bei Barack Obama bekam. Für mich bedeutet das, genau hinzuschauen, wie es dazu kommen konnte, dass das Wort heute zu einem Kampfbegriff geworden ist, der von rechter Seite eingesetzt wird, um eine so betitelte „Woke-Kultur“ zu bekämpfen. Ähnliches ist mit den Begriffen „Political Correctness“ und „Identitätspolitik“ passiert – ein irgendwie auch negativ besetzter Begriff. In diesen Begriffen spiegeln sich nun total viele Debatten. Und manche drehen sich nur noch darum, sich sofort zu positionieren: Bist du A oder bist du B? Hast du nicht gleich alles verstanden, bist du raus! Dabei wird doch niemand „woke“ geboren.

Was machen wir also mit diesem so verdreht verwendeten Begriff?

„Woke“ steht ja für nichts anderes als ein bestimmtes politisches Bewusstsein, das sich gegen Diskriminierung aller Art wendet. Ich würde es einfach mit „diskriminierungssensibel“, „diversitätsbewusst“ oder einfach nur „akzeptierend“ übersetzen. Bin ich bereit, mich dem zu öffnen, was ich nicht kenne? Es geht darum, die „Selbstgeißel“ einzupacken. Weil ich anerkennen kann, dass ich durch eine Sozialisierung durchgegangen bin, die auf Differenz unter Umständen mit diskriminierender Sprache oder Vorstellungen reagiert. Und ich kann mich dem stellen, mir selbst freundlich begegnen und dann werden auch andere mir im besten Fall freundlich begegnen. Ich suche nach Wegen, in denen Dissonanz oder Streit verhandelt wird, und meide Orte, in denen quasi „geschrien“ wird. Sich in Absolutheiten zu bewegen, ist so oder so keine gute Option.

Die Suche nach Identität oder der eigenen Differenz auf der einen Seite und die Einbindung und Teilhabe an der Gesellschaft auf der anderen Seite scheinen auf den ersten Blick gegenläufige Bewegungen zu sein. Wie schaffen wir es, beides gleichzeitig anzuerkennen und zu ermöglichen?

Das ist keine leichte Frage. Mein Buch allein kann darauf auch nicht die Antwort geben. Die Leser:innen sollen sich auch eingeladen fühlen, am Ende des Buches selbst weiterzuforschen, andere Texte zu lesen und vor allem sich mit Menschen in Begegnungen zu üben. Dieser Prozess kann nicht schnell gehen: Es ist auch zunächst ein persönlicher. Ich blicke in meiner bewussten Auseinandersetzung nun auf gut 15 Jahre zurück und ich bin nicht am Ende angelangt. Ich glaube auch nicht, dass es überhaupt ein „Ende“, also ein Ziel, geben kann. Es geht mir vielmehr um eine bestimmte Haltung, wenn ich sage: Ich sehe mich als Lernende. Ich meine eine bestimmte Art von Leichtigkeit, ein Sich-Einlassen aufeinander und ein Zulassen von Überraschungen, anstatt sich an absolute Weisheiten über die Art, wie man zu leben hat, zu klammern. Und ich glaube, das lässt sich auch auf Strukturen des Zusammenlebens übertragen. Mein Ansatz ist einer, der diese Formen des emotionalen Zugangs mit sehr rationalen Politiken verbindet, weil ich davon ausgehe, dass beides zusammengehört. Da, wo es um Arbeit an Strukturen geht, beispielsweise in einer Medienredaktion, um dort Diversitätsbewusstsein zu etablieren, ist es ganz entscheidend, dass man Diversität nicht als irgendeinen Trend versteht, sondern als menschenrechtlichen Aspekt. Ich kann also all diese strukturellen Dinge wie Organisationsentwicklung und Ähnliches erst anstoßen, wenn auch der innere Prozess im einzelnen Menschen angestoßen ist. Das wäre meine Vision: Mehr Menschen, die sich auf diesen Weg machen – aber im Bewusstsein, dass es ein langer ist. Man kann leider nicht einfach nur ein Buch lesen und dann hat sich die Sache.

Sie haben „Diversität als Trend“ angesprochen: Birgt die Institutionalisierung von diskriminierungskritischer Praxis – ob in Unternehmen, in Medienhäusern oder in Ämtern – nicht auch die Gefahr, dass sich oberflächliche Muster „antirassistischen“ oder „antisexistischen“ Verhaltens etablieren, während sich darunter nicht viel ändert? Ähnlich, wie sich in den letzten 30 Jahren in Deutschland und Österreich ein „Antisemitismus ohne Antisemit:innen“ herausgebildet hat?

Ja, diese Gefahr besteht auf jeden Fall. Ich sehe das klar im journalistischen Betrieb, wo immer mehr Formate mit dem Anspruch entstehen, progressiv, diskriminierungsbewusst und emanzipativ zu sein, während sich die Kultur im Betrieb nicht wirklich verändert. Weil – wie vorhin schon beschrieben – der Weg übers Persönliche nicht gegangen wird, die eigene Position nicht ausgehandelt wird. Weil das Label vorerst reicht. Und in dem Moment, wenn im vermeintlich progressiven Medienformat irgendetwas aus Sicht des Mediums „schiefläuft“ und irgendein wütender Mob – von welcher Seite auch immer – kommt, fehlen die Antworten. Das Thema meines Buches ist nichts anderes als ein großer journalistischer Fachbereich – und in dem gilt es, sich eben auszukennen wie in jedem anderen Fachbereich. Dann schafft man es auch, ruhig durch eine Phase der Konfrontation zu gehen – weil man den Kontext kennt, weil man Sicherheit hat, weil man die Dinge einordnen kann. Wir sehen das Phänomen ja auch an anderen Orten: Da macht man Kampagnen und große Pläne und dann kommt die eine Sache, die explodiert, und keiner weiß sich mehr zu verhalten. Deshalb ist es sinnvoll, dass man viele unterschiedliche Menschen hat, die zusammenarbeiten. Diversitätsbewusste und von etwas betroffene Menschen. Und von letzteren nicht nur eine Person, sondern mindestens drei oder vier, denn erst ab drei wird deutlich, wie heterogen die Meinungen auch innerhalb vermeintlicher Gruppen sind. Es „gut zu meinen“ und sich selbst als antirassistisch, antisemitismuskritisch und so weiter zu sehen, genügt eben nicht. Man muss schon einiges tun, muss sich Wissen in diesen Feldern aneignen, denn in der Schule haben wir es nicht vermittelt bekommen. Was außerdem fehlt, sind die Orte, an denen gesellschaftliche Aushandlungsprozesse wirklich ehrlich, authentisch und sicher für alle stattfinden können. Das heißt: sicher für die marginalisierten Menschen, aber auch sicher für alle, die sich darüber austauschen wollen, was sie nicht wissen. Aber da zurzeit eine ganz andere Situation vorherrscht, haben wir laufend diese Feuilleton-Explosionen, und jeder fragt sich immer wieder: Wie konnte das passieren?

Gibt es also im langen Kampf gegen Diskriminierungen einen echten gesellschaftlichen Fortschritt? Oder fechten wir in Wahrheit immer wieder dieselben Kämpfe aus – nur in neuen Kontexten?

Für mich ist es so ein Gefühl von: vor – zurück – vor – vor – zurück. Ich sehe das etwa auch in meinem Umfeld: Ich war Mentorin von anderen jungen Journalist:innen und ich weiß, dass wir viele dieser Netzwerke früher nicht hatten. Die haben wir erst gestaltet. Wie könnte ich das nicht als Fortschritt sehen? Wie konnte es passieren, dass wir heute Zugang zu Räumen haben, den wir früher nicht hatten? Und natürlich finde ich mich selbst in einer sehr privilegierten Position wieder, weil ich diesen Bildungsaufstieg gemacht habe. Das ist die eine Seite. Gleichzeitig spüren wir einen Backlash, der vielleicht so um 2010 mit dem Buch von Thilo Sarrazin und anderen Debatten losgetreten wurde. Wo bestimmte Bilder von dem Muslim und der Muslimin kreiert wurden. Aber wenn wir uns heute umsehen – dann gibt es junge Menschen, die mit einem ganz anderen Selbstverständnis umherlaufen und deutlich wahrnehmbar sind. Ich will das jetzt nicht gleich zur sozialen Bewegung machen, aber eine Veränderung ist auf jeden Fall da. Wir sind mehr und deutlicher „Migrationsgesellschaft“ geworden, und die Abwehr dagegen ist einfach mitgewachsen. Ich bin ja sehr geprägt von der südafrikanischen Philosophie des Ubuntu, also eines Denkens, das für Gemeinsinn innerhalb von Gemeinschaften steht. Das führt mich immer auch zu einer gewissen Nachsicht und einer gewissen Hoffnung.

Sie haben es gerade angesprochen: Was in Europa als „der Islam“ oder als „Muslimischsein“ verstanden wird, hat sich in den letzten 20 Jahren stark verändert. Wie haben Sie diesen Wandel miterlebt?

Ich habe eine jüngere Schwester, die ist Hijab-Bloggerin. Sie ist für mich ein Beispiel für diese neue Generation junger, gesellschaftspolitisch bewegter Musliminnen, die eben genau mit diesem intersektionalen Selbstverständnis agieren. Als ich sozialisiert wurde, haben wir einmal in einem Projekt der Neuen deutschen Medienmacher*innen Bilddatenbanken abgescannt nach Darstellungen des muslimischen Lebens in den deutschen Medien. Mit dem Ergebnis: Es gab so gut wie keine Bilder. Aber viele von kopftuchtragenden Frauen mit Supermarkttüten. Oder dieses bekannte Bild einer Frau mit Hijab, die in einem Klassenraum steht und „Integration“ auf eine Tafel schreibt. Heute sieht man die Emanzipationsschritte auch der sogenannten zweiten Generation, die darum bemüht ist, ein Bewusstsein für die Heterogenität von Muslimischsein zu etablieren, also für die unterschiedlichsten Lebensweisen. Heute können wir viel mehr vom religiösen muslimischen Leben mitbekommen, wenn wir wollen. Das ist kaum vergleichbar mit der Situation in meiner Kindheit. Gleichzeitig durchzieht antimuslimischer Rassismus fast alle Ebenen des öffentlichen Lebens. Und das bewegt mich sehr, weil dieses Problem keine richtige Anerkennung bekommt. Bestimmte wertende Vorstellungen schwingen so oft mit und sind nur schwer besprechbar. Wir sehen das jetzt ganz aktuell am Umgang mit geflüchteten Menschen: Durch den Ukrainekrieg gab es wieder das Label von den vermeintlich Guten und Schlechten. Und inzwischen überlappen sich die Erfahrungen der Ungleichbehandlung auch im Vergleich zu 2015. Und während wir zu Recht die Aufmerksamkeit auf die Ukraine und ihre Bevölkerung richten, wird ein Verständnis von Differenz und Diskriminierung in unserer Gesellschaft noch wichtiger werden. Aufgabe wird es sein, den Stigmatisierungen etwas entgegenzusetzen, die bereits geschehen. Es passiert einfach alles gleichzeitig, und wir alle sind für unser Miteinander verantwortlich.

Hadija Haruna-Oelker lebt als Politikwissenschafterin, Journalistin und Moderatorin in Frankfurt am Main. Sie arbeitet hauptsächlich für den Hessischen Rundfunk und schreibt eine monatliche Kolumne für die Frankfurter Rundschau. Ihr erstes Buch Die Schönheit der Differenz ist im März erschienen und wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Sachbuch nominiert.

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